Wieso ich dem Infektionsschutzgesetz NICHT zustimme

Veröffentlicht am 21. April 2021

Anders, als zugesagt („Die Schließung von Kitas und Schulen sind nicht das erste Mittel, sondern sie sind das letzte Mittel, wenn es um Einschränkungen geht“, das erklärte Familienministerin Franziska Giffey am 1. November in einem ARD-Bericht.) sind erneut Kinder und Jugendliche die Verlierer:innen dieser Pandemie. Aus diesem Grund konnte ich dem vorgelegten Gesetzentwurf heute nicht zustimmen.

Nach wie vor soll es keine Verpflichtung für Unternehmen geben, dass deren Mitarbeiter:innen regelmäßige Schnelltestungen durchführen. Nicht einmal in besonders gefährdeten Branchen soll es eine FFP2-Masken-Angebotspflicht für Arbeitgeber:innen geben. Zugleich müssen Bildungseinrichtungen pauschal ab einem festgelegten Inzidenzwert schließen, bzw. in den Notbetrieb übergehen.

Dabei ist der Schaden, den wir damit Kindern und Jugendlichen antun, gravierend.

In der Mittelstufe gibt es zum Teil seit über vier Monaten keinen Präsenzunterricht mehr. Aber auch jüngere und ältere Schüler:innen haben in den vergangenen Monaten kaum zuverlässig Präsenzunterricht erlebt. Im Distanzunterricht verkürzen sich die Lernzeiten massiv, die Lernentwicklung hat sich extrem verlangsamt und vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen oder aus prekären Milieus haben ein besonderes Risiko, dadurch uneinholbare Rückstände zu erleiden. Das ist zutiefst ungerecht und verschärft die ohnehin bestehende Ungleichheit. Zuletzt teilte das ifo Institut mit, dass auch im zweiten Lockdown weniger als an einem üblichen Schultag vor Corona gelernt worden sei und dass vor allem leistungsschwächere Schüler:innen und Nicht-Akademikerkinder zu Hause deutlich weniger effektiv und konzentriert gelernt hätten.

Die Hoffnung, die auf digitale Bildungsangebote gesetzt wurde, konnte bei Weitem nicht eingelöst werden. Deutschland hinkt bei virtueller, digitaler Bildung hinterher. Selbst wenn es nunmehr zum Teil funktionierende Lernplattformen gibt, zeigt sich, dass das Fehlen sozialer Interaktion und auch das Wegfallen von Sport- und Musikunterricht sich negativ auf die motorische und emotionale, aber auch auf die kognitive Entwicklung auswirken (vgl. OECD Berlin). Hinzu kommt: es fehlt an einem Schutzraum. Vor allem Kinder und Jugendliche aus prekären Milieus haben unter Umständen erschwerte Lernbedingungen durch beengte Wohnräume und schlechtere Ausstattung. Jugendämter in Deutschland befürchten akut auch einen Anstieg der Schulabbrecher:innenquote bis hin zur Verdopplung der Quote im Vergleich zu den Zahlen vor Corona.

Ungehört bleibt der Appell von zahlreichen namhaften Kinderärzt:innen, Psycholog:innen und Virolog:innen wie Dr. med. Thomas Fischbach (Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte), Prof. Dr. med. Stefan Willich (Direktor Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité Berlin), Prof. Dr. med. Johannes Hübner (Infektiologe am Kinderspital am Klinikum LMU München) und vielen mehr, die klar warnen:

„Die Solidarität, die wir Kindern bereits seit Monaten abverlangen, geht auf Kosten ihrer Bildungs- und Entwicklungschancen, ihrer psychischen Gesundheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit.“

UNICEF kritisiert den Trend hin zu Schulschließungen:

„Die Vorteile, die sich ergeben, wenn Schulen geöffnet bleiben, überwiegen bei weitem die Kosten für ihre Schließung.“

Auch mit Blick auf die befürchtete Zunahme der häuslichen Gewalt (vor der Pandemie wurden etwa 40 Prozent der Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen von Erzieher:innen und Lehrenden gemeldet, Sozialarbeiter:innen konnten Familien nicht mehr so eng wie gewohnt begleiten) und die Zunahme der Inanspruchnahme von Sorgen- und Elterntelefonen ist klar: Schul- und Kitaschließungen müssen absolute Ultima Ratio sein.

Kinder und Jugendliche spielen selbstverständlich eine Rolle im Infektionsgeschehen, ihre Rolle wird aber – gerade im Vergleich zu Infektionen am Arbeitsplatz überschätzt. Weder Schulen noch Kitas haben sich jedoch als „Superspreader“-Orte erwiesen (vgl. hierzu auch die Berliner Schul- und Kita-Studien sowie die COVID-Kids-Bavaria-Studie). Es gibt weiterhin lediglich punktuelle, vereinzelte Ausbrüche – die nun auch mit Hilfe der Schnelltest Strategie schneller identifiziert werden können. Unzweifelhaft sind feste Gruppen- und Klassenverbände hier entscheidend. Und unzweifelhaft ist es weiterhin sinnvoll, die Präsenzpflicht auszusetzen.

Nichtsdestotrotz muss der Schutz der Lehrkräfte und Erzieher:innen absolute Priorität einnehmen. Von den der Krankenkasse gemeldeten Krankschreibungen bei Erziehr:innen entfielen drei Prozent auf Corona-Infektionen (im Zeitraum zwischen März und Oktober 2020) – fast doppelt so viel wie im Durchschnitt Berufstätige anderer Branchen. Zwar soll es nun für Erzieher:innen und Lehrkräfte ein Impfangebot geben, hier muss aber mehr Tempo reinkommen. Dass Impfungen, Abstand (wo möglich), frische Luft oder Lüftungsanlagen, Händewaschen und Desinfektion, Schnelltests bzw. Pool-Testing und Masken entscheidend sind, ist seit nahezu Anfang der Pandemie bekannt. Der Schutz der Bildungseinrichtungen ist trotzdem bis heute nicht gewährleistet. Das muss sich ändern: Bildung und Betreuung müssen absolute Priorität einnehmen.

Welchen Stellenwert Kinder und Jugendliche, Schule und Bildung in unserer Gesellschaft einnehmen und welche Maßnahmen im Rahmen der Coronapandemie daraus erfolgen, ist auch eine politische Ermessenssache. Mit Blick auf unsere Nachbarländer, die Schweiz, Dänemark oder Frankreich zeigt sich, es ginge auch anders. Die Schweiz etwa hat zwar ihre Maßnahmen schrittweise verschärft, als das Infektionsgeschehen außer Kontrolle zu geraten schien – aber die Schulen blieben in Kombination mit Hygienekonzepten auf. Trotz geöffneter Schulen hat sich das Infektionsgeschehen dem deutschen Wert wieder angenähert. Damit will ich ausdrücklich nicht zum Ausdruck bringen, dass Bildungseinrichtungen pauschal geöffnet bleiben müssen.

Insbesondere in Frankreich scheinen die Schutzkonzepte nicht weit genug zu gehen und Impfungen für Lehrkräfte kamen zu spät auf den Plan, so dass in Frankreich die Zahl der Schulklassen, die wegen Covid-Erkrankungen geschlossen werden müssen, stark angestiegen ist. Genauso wenig wie pauschale Öffnungen jedoch, ist der Ruf nach pauschalen Schließungen der richtige Weg.

Die Impfquote, auch und insbesondere im Bildungs- und Erziehungsbereich wird sich in den kommenden Wochen (hoffentlich) stetig erhöhen. Trotzdem ist im vorgelegten Gesetzentwurf vorgesehen, Schulen pauschal zu schließen. Das ist weder angemessen noch gerecht gegenüber den Kindern und Jugendlichen. Ich habe mich daher beim Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite enthalten.